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Sarah Schmidt: Seht, was ich getan habe

Was war wirklich los im Haus von Lizzie Borden?

Es ist zutiefst gruselig, was damals geschah, in dieser kleinen Stadt namens Fall River in Massachusetts.

Was war wirklich los im Haus von Lizzie Borden?

Es ist der 4. August 1892, ein besonders heißer Sommertag, man sagt, das Thermometer sei schon am Morgen bis auf 38°C geklettert. Gegen 11:00 Uhr tritt Lizzie Borden aus ihrem Haus in der Second Street auf die Straße und ruft: "Jemand hat Vater getötet!" Die Polizei ist in wenigen Minuten vor Ort und natürlich trudeln ein paar neugierige Nachbarn ein. Was sie im Haus vorfinden, lässt ihnen allen vermutlich den Atem stocken. 


Zuerst findet man den Vater, Andrew Borden, er liegt auf dem Sofa im Wohnzimmer, und ihm ist mit elf Hieben eines Beils das gesamte Gesicht zerschlagen worden. Es wird von einem herausgefallenen Auge berichtet.


Während noch alle versuchen, sich von dem Schock zu erholen, findet man im Obergeschoss die Leiche von Abby Borden, seiner Ehefrau. Sie ist die Stiefmutter von Lizzie und ihrer zehn Jahre älteren Schwester Emma. Sie wurde hinterrücks erschlagen, auch sie mit einem Beil. Der Täter hat an die zwanzigmal zugeschlagen, man vermutete, dass, wer immer das tat, dabei auf ihrem Rücken saß.


Es muss überall wahnsinnig viel Blut gewesen sein. 

Willkommen in der Welt des Horrors.


Seither zerbrechen sich Jahr für Jahr Menschen den Kopf über DIE EINE Frage: 

Hat sie es getan? Oder hat sie es nicht getan?


Lizzie.


Sie war von Anfang an die Hauptverdächtige in diesem Fall und man hat sie für zehn Monate in Untersuchungshaft genommen, bevor man sie vor Gericht stellte. Bei den Anhörungen verstrickte sie sich in Widersprüche und Ungereimtheiten. Als Motiv unterstellte man ihr Habgier. Die Gerüchte führten ein Eigenleben. Hatte der Vater vor, sein Testament zugunsten seiner Frau ändern? War das Verhältnis zwischen Stieftochter und Stiefmutter herzlich oder nicht? Wann hat Lizzie angefangen, ihre Stiefmutter nur noch Mrs Borden zu nennen? 

Sie wirkte so schuldig, wie man nur wirken kann.


Und doch hat man sie freigelassen, und zwar aus mehreren Gründen: Zum einen, weil man die Mordwaffe nicht finden konnte und weil kein Blut an ihren Kleidern war. Zudem hatte der Arzt der Familie angefangen, Lizzie mit Morphium zu behandeln, um ihre Nerven zu beruhigen. Daraus hätten die Widersprüche und Erinnerungslücken entstanden sein können. Auch schien es unvorstellbar, dass eine Frau zu einer solchen Gewalttat imstande sein könnte. Erst recht nicht eine, die in der Sonntagsschule unterrichtet und ein ansonsten tadelloses Leben führt.


Freispruch also, aus Mangel an Beweisen eben. Aber der Makel blieb. 


Was ist an einer Figur wie Lizzie Borden so faszinierend, dass man nicht müde wird, nach so langer Zeit über den Tathergang die wildesten Spekulationen anzustellen? Gab es seither nicht noch andere, noch üblere Verbrechen? Von Frauen allemal.


Es ist zu diesem Fall so viel geschrieben, gemutmaßt, gefilmt und erzählt worden, dass man meinen könnte, es gäbe nichts von Bedeutung mehr, das man diesem Erzählstrom hinzufügen könnte.


Und da kommt diese junge amerikanische Schriftstellerin und will es noch einmal wissen. 


Sarah Schmidt lässt in ihrem Buch "Seht, was ich getan habe" die Geschichte am Tag vor dem Mord anfangen. Dabei erzählt sie aus wechselnden Perspektiven. Mal sieht man die Welt mit Lizzies Augen, dann mit denen ihrer Schwester Emma, es kommen das Dienstmädchen Bridget und der Onkel John zu Wort, außerdem noch ein imaginierter Fremder namens Benjamin.

So tretet also ein in das Haus in der Second Street. Lasst Euch von der Autorin führen, durch Räume und Gedanken. Es ist eine Zeitreise der besonderen Art. Reißt Euch zusammen und fürchtet Euch nicht. Folgt den Spuren und nehmt sie in Euch auf, diese ungute, zerstörerische Stimmung, die im Hause Borden geherrscht haben mochte, eine Mischung aus Missgunst, Trauer, Geiz und verpasstem Leben.


Sarah Schmidt schafft es, beinahe alle mir bekannten Spekulationen in dieser Geschichte unterzubringen und denen noch eigene hinzuzufügen. Sie hat sich hineingefuchst in das Thema, hat viel Zeit in dem Museum verbracht, das man aus dem Wohnhaus der Bordens gemacht hat. Sie hat beinahe alle verfügbaren Materialien ausgewertet. Und so wie sie alles gekonnt zusammenfügt, klingt der Tathergang plausibel. Ich verrate jetzt nicht, zu welchem Schluss sie kommt, ob sie Lizzie die Täterin sein lässt oder ihre Schwester, vielleicht das Hausmädchen Bridget oder den Fremden namens Benjamin, den einige Augenzeugen bemerkt zu haben glaubten. Oder jemand ganz anderes.


Sarah Schmidt hat nämlich noch mehr vermocht, als ein bekanntes Gruselkabinett mit neuen Farben anzumalen. Sie hat mit literarischer Kraft die Zeit und ihre Bewohner für uns spürbar und erlebbar gemacht. Und schon schnurren die lächerlichen 126 Jahre zusammen zu einem Augenblick, ist dieser Mord nicht erst gerade eben in der entfernten Nachbarstadt begangen worden? Denn so groß ist der Unterschied zu heute am Ende gar nicht. Jemand hat Fenster geputzt, jemand hat Suppe gekocht, jemand ist zum Einkaufen in die Stadt gefahren, man war freundlich oder gereizt, neugierig oder zurückhaltend, wütend oder beschwichtigend. Und die Nachbarn hatten am Ende wie immer viel zu erzählen, während die Sensationslüsternen und Gaffer damals wie heute ihre eigenen Wahrheiten spinnen, aus allzu dünnen Fäden und Luft.


Vielleicht ist diese vermeintliche Nähe der Grund dafür, dass ich partout nicht will, dass Lizzie es getan hat, auch ich fürchte mich vor der Einsicht, dass eine Frau zu etwas so abgrundtief grausamen fähig sein kann. Eine Frau, die im Alter freundlich zu Kindern und Eichhörnchen war, so wird berichtet, eine Frau, die der jungen Amanda das Kartentricksen beigebracht hat. Und so folge ich jeder anderen Möglichkeit, die mir die Autorin anbietet, mit hündischer Unterwerfung. Dabei schiele ich sehnsüchtig auf "Miss Lizzie", diesmal die von Walter Satterthwait, vielleicht sollte ich dieses Buch doch noch einmal lesen. Ein allerletztes Mal. Als Gegengift, sozusagen.


"Seht, was ich getan habe" ist eine eigenwillige und sehr gelungene Interpretation des Lizzie-Borden-Stoffes. Aber seid gewarnt: Dieses Buch hat diverse Nebenwirkungen. Schlaflosigkeit, Magengrimmen, nicht zuletzt erhöhte Anwesenheit im Internet auf der verzweifelten Suche nach neuen Indizien. Na dann: Viel Glück!


Sarah Schmidt: Seht, was ich getan habe

aus dem Amerikanischen von Pociao

Pendo Verlag 2018, 383 Seiten



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