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Nathan Hill: Geister

Ein opulentes Buch, ein einfacher Titel. Ein grandioser Roman aus Amerika.

Das ist mal eine Aufgabe: Ich muss es schaffen, so über den Roman „Geister“ von Nathan Hill zu erzählen, dass jeder, der dies liest, weiß, das ist das Buch, das man in diesem Jahr gelesen haben muss, selbst wenn man nur ein einziges Buch lesen kann. 


Denn das ist nun einmal ausgemacht: Dieser Roman ist einfach ganz und gar großartig.


Dass ich dieses Buch überhaupt eines Blickes gewürdigt habe, obwohl es eher grau und unscheinbar daherkommt und ich den Autor nicht kannte, lag an dem einfachen Titel. „Geister“, dieses eine schnörkellose Wort mit seinen unzähligen Assoziationen, das die Rationalistin in mir angesprochen hat. Welche Geister meint er wohl, dieser Nathan Hill? Die, die man ruft und nicht mehr loswird? Die aus der Vergangenheit? Erzählt er von Lücken in der Wahrnehmung oder tatsächlich von paranormalen Phänomenen? Vielleicht von allem zusammen? Ich bin neugierig.


Das Buch ist so dick, man kann es aufrecht vor sich hinstellen, und wenn man den Buchdeckel öffnet, ist es, als würde man durch eine Tür treten. Vielleicht in einen Flur, den Flur eines kleinen Hauses Mitte der 80er Jahre. Ein Junge wird von seiner Mutter verlassen. Er erkennt die Anzeichen des langsamen Verschwindens. Der Junge ist elf. In dem Flur ist es traurig. Man erreicht eine weitere Tür, öffnet sie, es ist das Jahr 2013, ein Park, eine politische Veranstaltung, man sieht eine ältere Frau Steine auf den Gouverneur werfen. Möglicherweise handelt es sich bei der Frau um die Mutter des Elfjährigen.


Hier schon hat Nathan Hill etabliert, was für seinen Roman so typisch ist: Die Montagetechnik. Immer wieder entwirft er Szenen, Bilder und Ereignisse, etabliert Figuren, von denen man anfangs nicht weiß, wie sie in das große Ganze passen und schafft so mit einer Art Patchworkoptik das ganz große Gemälde.


Im Kern ist „Geister“ eine amerikanische Familiensaga, episch und groß angelegt. Was gibt es nicht alles zu erzählen?


Ein Kind wird verlassen. Eine Frau verlässt ihre Familie. Aber warum das alles? Woher kommt diese Frau? Wer hat ihr dereinst all diese Gruselgeschichten erzählt, die sie ihrem empfindsamen Sohn weitergibt? Wie kommt eine junge Verlobte aus Iowa nach Chicago, mitten hinein in die Studentenunruhen? Und was ist ihr dort begegnet, das sie 20 Jahre später veranlasst, ihre Familie zu verlassen? Was passierte mit ihr, nachdem sie gegangen ist? Wieso hat sie sich nie mehr bei ihrem Sohn gemeldet? Und wie kommt sie in diesen Park, um dort mit Kieseln nach einem reaktionären Politiker zu werfen und damit eine riesige amerikanische Medienhysterie auszulösen?


Hill ist ein Magier, ein Illusionist der besten Sorte: Man kann sich seinen Landschaften, den inneren wie äußeren, nicht entziehen. Und er beherrscht alles, die ganze Klaviatur des Schreibens. Er kann lustig, ja gerade lustig, natürlich auch traurig, mal ernst, mal albern, auf jeden Fall sympathisch, spannend, kurz, lang, episch, knapp, trocken und poetisch, je nachdem, was er gerade erzählen will.


Über Einwanderer aus Europa, Kindheit und Jugend in unendlich ländlicher Gegend in Iowa, die 50er Jahre samt ihrer merkwürdig spießig anmutenden Auswüchse, die 60er Jahre, die Studentenunruhen, Neugier, Aufbruch und Ernüchterung, die großen Enttäuschungen der 80er Jahre, Kriege damals wie heute und immer schon Leute, die aus allem Kapital zu schlagen vermögen.


Dazwischen Menschen mit ihren Träumen und Wünschen, mit ihren Leben inmitten der knirschenden Zeitgeschichte, im Spannungsbogen zwischen den großen politischen Unruhen der späten 60er und der Wall-Street-Geschäftigkeit der Neuzeit, es ist das ganz große Kino mit der Bedeutung von fast allem.


Ich habe mich verloren in jeder einzelnen der Geschichten, ob früher, damals, gestern oder heute, und der Grund dafür ist, dass alles so unglaublich lebendig erzählt wird. Es ist wie im richtigen Leben und am Ende gehört alles zusammen, ergibt alles etwas, das man einen Sinn nennen könnte. Das ist so tröstlich und schön, dass es schier nicht auszuhalten ist.


Da sind sie dann alle, die Geister. Die aus der Vergangenheit, die, die man ruft und nicht wieder loswird, die Lücken in der Wahrnehmung, die Gnome und Gespenster aus den Gruselgeschichten, hauptsächlich aber die Geister, die einen ein Leben lang umtreiben, diese nicht erzählten Teile der Wahrheit, die wie stumme, unsichtbare Begleiter einer Geschichte innewohnen. Um die aber geht es am meisten, denn sie sind der eigentliche Kern.


Dann habe ich das Buch zugeklappt und mich nur langsam entfernt, so als würde ich mit einem Boot eine Küste hinter mir lassen. Wehmütig blicke ich zurück auf die Landschaften, die ich durchschritten habe. Traurig nehme ich Abschied von den Protagonisten, die ich in mein Herz geschlossen habe. Ich habe Kindern beim Erwachsenwerden zugesehen, Jugendliche beim sich politisieren, jungen Männern, wie sie aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten in irgendwelche Kriege gezogen sind. Ich war sogar bei den Studentenunruhen in Chicago 1968 leibhaftig dabei, völlig beeindruckt von der energiegeladenen Spannung, die ich förmlich körperlich gespürt habe. So muss das damals gewesen sein. Dass man so schreiben kann!


Ich bin diesem Erzähler rettungslos verfallen.


Mal ehrlich, kein Reiseveranstalter kann das bieten: Soviel Welt zwischen zwei Buchdeckeln. Und das für läppische 25.- Euro!


Nathan Hill: Geister

Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Löcher-Lawrence

Piper Verlag 2016, 864 Seiten


 

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