Damals las ich zum ersten Mal die Geschichte von Simon, Joe und Kerewin. Dunkel erinnere ich mich daran, dass ich es da schon mochte, sehr mochte, ich kann mich aber nicht mehr genau erinnern, warum. Da war etwas mit diesem Buch, es umgab eine Aura des Ungewöhnlichen. Es war auf jeden Fall dramatisch und geheimnisvoll, es ging darin um Menschen jenseits der Norm und um Gewalt. An einem Kind? Vielleicht. So ähnlich.
Ich stehe vor meinem Bücherregal und höre es rufen. Das Buch.
Ich habe Urlaub, kein anderes Buch fordert derart eindringlich meine Aufmerksamkeit und so gebe ich nach.
Als erstes erwarten mich Stimmen, merkwürdige Nachrichten aus einer Welt, die ich nicht gleich zuordnen kann. Wer spricht? Was wird gesagt? Über wen?
Und dann, plötzlich, taucht ein Turm am Meer auf, ein eigenwilliges Gebäude.
Darin lebt Kerewin, zurückgezogen, sehr für sich und sehr darauf bedacht, niemandem allzu nah zu kommen. Eines Tages entdeckt sie beim Nachhausekommen Simon bei sich im Turm. Der Junge ist bei ihr eingebrochen und lässt sich so schnell nicht wieder abwimmeln. Erst am Abend wird er von Joe, seinem Stiefvater, abgeholt.
Damit wäre der Anfang gemacht, die drei Protagonisten sind eingeführt, die Geschichte kann beginnen. Die Geschichte von Dreien, deren Geschicke auf sowohl wunderbare als auch unheilvolle Weise miteinander verwoben sind.
Kerwin, die Einsame, die von ihrer Familie verstoßen wurde.
Simon, das Findelkind, das am Strand angespült wurde, vom Meer ausgespuckt, blond, mager, vielleicht siebenjährig, ohne Herkunft, fremd, ein Bankert. Stumm.
Und Joe, der Frau und Kind verloren hat. Der Simon bei sich aufgenommen hat, sich liebevoll um ihn kümmert, der aber in seiner Trauer und in seinem Schmerz häufig keine passenden Antworten auf Simons störrisches Verhalten hat. Er züchtigt ihn.
Die Geschichte wendet sich in dem Moment, als Simon in Kerewins Turm eingebrochen ist. Zwischen dem stummen Jungen und der mürrischen Frau entwickelt sich eine ungewöhnliche Art der Kommunikation. Auch Joe bemerkt staunend die Veränderung bei seinem Sohn und so sieht es für einen kleinen Moment so aus, als könne zu dritt noch alles gut werden. Doch das Drama strebt unaufhaltsam seiner Eskalation zu. Danach Stille.
„Unter dem Tagmond“ ist nicht nur eine neuseeländische Geschichte, es ist eine Maori-Erzählung, voller rätselhafter Bilder und betörender Gerüche, ein Text wie Musik, voller Rhythmus und Klang. Und voller Farben.
Vielleicht sind sie der Grund für die Schönheit des Textes. Die zärtliche Liebe von Joe zu seinem Findesohn, ganz in türkis erstrahlend. Die mürrischen und doch heiteren Launen von Kerewin, erdbraun, die für beide eine distanzierte Zuneigung empfindet. Das Kind in seiner Liebe zu beiden, weiß. Und rot der alles versengende Zorn.
655 Seiten, im Rausch gelesen, eine Erzählung, die von sich selbst verschlungen wird, eine Geschichte von so existenzieller Wucht, dass es einem den Atem raubt. Ein reißender Erzählstrom, dann ein Strudel, der sich dreht, sich dreht und einen mit hinabzieht auf den Grund, der sich auf wundersame Weise öffnet und einen ausspuckt, ins Licht, in die Sonne, in eine hoffnungsvolle und fröhliche Zukunft. So wird es sein.
So wünsche ich mir ein Buch: Wie ein lebendiges Tier, fröhlich, ängstlich, wild um sich schlagend und doch voller Zärtlichkeit. Und so flüstert in meinem Kopf noch lange nach der letzten Seite eine sanfte Stimme drei Namen: Simon, Joe und Kerewin.
Damals wie heute.