Es ist früher Morgen, ich sitze schon eine Weile versonnen auf der Terrasse und schaue blicklos in den Garten. Der Garten hat um diese Zeit alles, was man braucht, um, abgeschieden von der Welt, zu lesen: Eine feine Stille, die durch das leichte Vogelgezwitscher eher verstärkt wird. Eine gewisse Einsamkeit, weil um diese Uhrzeit noch niemand in die Kühle hinaus will. Dazu erzeugen die frühen Sonnenstrahlen in dem satten Grün der Bäume ein Leuchten, das aus ihrem Inneren zu kommen scheint.
Alles ist friedlich, alles ist schön, alles ist genau richtig, um Murakami zu lesen.
„Die Ermordung des Commendatore“ ist mal wieder einer von den Romanen, der für mich alles hat, was Murakami ausmacht. Ein paar Menschen sind an Punkten in ihrem Leben angekommen, an denen sie großen Wandlungen unterworfen sind. Für diese Wandlungen findet Murakami Bilder, die eher an Träume erinnern oder an Märchen.
Wenn man die Geschichten mal ganz nüchtern betrachtet, passiert eigentlich nicht viel. Ein Mann wird von seiner Frau verlassen, ein anderer ist auf der Suche nach seiner Tochter, ein Mädchen kommt in die Pubertät. Und ein Maler hat vor langer Zeit ein bedeutsames Bild gemalt. So gesehen sind die Ereignisse eigentlich ziemlich überschaubar.
Dass die vier sich begegnen, ist natürlich auch nichts weiter als Zufall, gerne auch mal Schicksal genannt. Der verlassene Mann zieht in das alte Haus des Malers, weil er mit dessen Sohn befreundet ist. Der Nachbar vermutet in einem Mädchen seine Tochter und benutzt den verlassenen Mann, um an sie heranzukommen.
Danach kommt einfach jede Menge Hui Buh und die Protagonisten werden in die abenteuerlichsten Geschichten hineingeworfen.
Als Startschuss für kommende Ereignisse dient das Läuten kleiner Glöckchen. Plötzlich bevölkern Figuren aus Gemälden die Umgebung, die Protagonisten werden mit einer geheimnisvollen Aura ausstaffiert, es gibt unauffindbare Geheimgänge, magische Kräfte, die von Gemälden ausgehen und jede Menge anderer furchteinflößender Details.
Wirklich groß wird dieser ganze verschrobene Plot dann allerdings durch Murakamis unbändige Erzählkraft. Ähnlich wie die Sonnenstrahlen meinen Garten zum Leuchten bringen, entzündet er nur mit Worten eine Fackel, die eine Szenerie erhellen, die man vorher so nicht gesehen hat. Er kennt die machtvollen Zauberwörter, die einem Einlass gewähren in Welten hinter, neben oder in der Welt. Er ist ein Magier, ein Hypnotiseur, der einen derart in seinen Bann zieht, dass man aufhört, irgendetwas von dem, was er erzählt, in Zweifel zu ziehen. Er ist eben ein Geschichtenschreiber der ganz besonderen Art.
Ich habe mich ihm und seiner unglaublichen Story vollkommen überlassen, vielleicht als das Mädchen, das nie Märchen gelesen hat und das jetzt nachholt. Vielleicht als eine Person, die sich als streng rationalistisch versteht und in den Welten von Murakami eine Auszeit findet. Vielleicht aber auch als jemand, der um die Macht des Unterbewussten weiß, um die Kräfte, die an einem zerren, um den Widerstreit der unterschiedlichen Antriebe, die uns in die ein oder andere Richtung lenken. Wir kennen sie doch alle, die Sehnsucht danach, unserem Leben durch magische Überhöhung eine besondere Bedeutung zu verleihen und in Zufällen das Schicksal erkennen zu wollen. Oder etwa nicht?
Mit der Lektüre der „Ermordung des Commendatore“ war ich mal wieder mehrere Tage am Ende der Welt angekommen und habe staunend und voller Spannung das Geschehen beobachtet. Nein, eigentlich war ich mittendrin. Ich habe den Rosenkavalier gehört, mit dem Commendatore geredet, saß in der Grube im Wäldchen, habe den geheimen Weg gesucht und nicht gefunden, ich habe Gemälde bewundert und ihre Kraft gespürt. Ich war in einem fremden Haus eingesperrt, bin durch die Unterwelt gegangen, habe den gesichtslosen Fährmann mit einem Pinguinanhänger bezahlt, bin neu geboren worden und habe - ganz furchtbar - der Ermordung des Commendatore beigewohnt (nein, ich habe es nicht selber getan). Das Allerbeste aber: Ich habe mich nie gewundert.
So geht das doch: Geschichtenerzählen.