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David Mitchell: Slade House

Ein 1A grandioser Gruseltrip, kein Buch für Hasenfüße

Mysteriös: Laut Google Maps und allen anderen einschlägigen Straßenkarten kann es gar nicht da sein. Auch die kleine Gasse, die zu ihm führt, ist nirgends verzeichnet. 

Und doch verirren sich regelmäßig Menschen dorthin: In das Slade House.


Sie biegen von der Hauptstraße in einen nebelverhangenen Weg ab, treten durch das kleine schwarze Tor ohne Klinke und finden sich unerwartet in einem wundersamen Garten wieder, eine terrassierte Anlage, die direkt dem fiebrig bunten Traum eines Gartenarchitekten entsprungen zu sein scheint. Harmonie und Einklang, Tiere, Blumen, Farben, alles aufs prächtigste arrangiert, lockend und säuselnd, duftend und überbordend, niemand kann sich dem Zauber entziehen. 


Kaum eingetroffen werden die Besucher von den freundlichen Besitzern des Hauses in Empfang genommen. Man unterhält sich angenehm und weltgewandt und entschließt sich letztlich, ins Haus zu gehen.


Selbst der unerfahrenste Leser dieses Genres spürt das Unheil, das sich anbahnt. Wir erfahrenen Hasen denken vielleicht noch kurz: „Ah, das Haus könnte gefährlich sein. Geht da lieber nicht rein“ und glauben zu wissen, was als nächstes passiert. 


Aber wir täuschen uns! Und zwar nach Strich und Faden. 


Nicht, dass die Geschichte vom Spukhaus neu wäre. Aber jeder Spuk ist nun mal anders, und der Grusel in David Mitchells Slade House fährt einem förmlich in die Eingeweide. Das geht soweit, dass man vor lauter Spannung wieder anfängt, an den Fingernägeln zu kauen. Man hält die Luft an, was zum Henker haben die beiden Geschwister mit ihren Gästen vor? Und wie kommen die da wieder raus? Ich verrate Euch was: Sie kommen da nicht mehr raus, und man möchte schreien, ihnen zurufen: „Verschwindet so schnell ihr könnt!“, aber ihr Schicksal scheint besiegelt. Wollt Ihr das wirklich lesen?


Na gut, Ihr Furchtlosen, übersinnlich Begabten, Nichtgläubigen, Gespensterjäger und Freunde von paranormalen Aktivitäten, dann folgt eben den Besitzern in ihr unheilvolles Haus.


Aber sagt später nicht, dass man Euch nicht gewarnt hätte. Und was für ein „Später“?

Haltet Augen und Ohren offen, lasst Euch nichts erzählen, seid auf der Hut, denn dies ist wahrlich keine Geisterbahn. Passt auf, manche Beschwörungen sind so echt, dass Ihr Euch darin verlieren könntet.


Ernsthaft, übergeht die Warnungen nicht leichtfertig. Das Haus und seine Bewohner sind gefährlich.


Und es könnte sein, dass Ihr, sobald Ihr mit dem Lesen fertig seid (Eure Gefühlswelt ist noch voller spukiger Einzelheiten), den Kopf von den Seiten hebt, Euch umschaut und feststellen müsst, dass Ihr in Wirklichkeit auf dem Dachboden des Slade House aufgewacht seid. 


Der Schrecken wird Euch in jedes einzelne Eurer Glieder fahren, so echt ist diese Vorstellung. Ihr werdet Euch eingestehen müssen, dass das Lesen nichts war als eine grandiose Illusion in einer sehr aufwendigen Subbeschwörung und Ihr Gefangene zweier garstiger Geister seid, die es darauf angelegt haben, Euch Eurer Seele zu berauben. Und zwar jetzt.


Die Vorvorderen wussten es noch: Gehe nie mit Fremden mit.

Und: Lesen ist gefährlich! 


Herrlich!


David Mitchell: Slade House

Aus dem Englischen von Volker Oldenburg

Rowohlt Verlag 2018, 240 Seiten

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