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Colson Whitehead: Die Nickel Boys

Dies ist die Geschichte von Elwood, dem schwarzen Jungen aus einem schwarzen Stadtteil zu einer Zeit, als Rassentrennung in Amerika Alltag war.

Es ist das Amerika der 60er Jahre, der Ku-Klux-Klan wütet, Gesetze verbieten Menschen alleine aufgrund ihrer Hautfarbe die Teilhabe am öffentlichen Raum, man sperrt sie weg, diffamiert sie, bestraft Zuwiderhandlungen drastisch, die Lynchjustiz feiert fröhliche Urstände.


Es ist aber auch die Zeit, in der Elwood anfängt, zu träumen. Er ist ein fleißiger und freundlicher Junge, wissbegierig und friedliebend. Er lauscht andächtig den Reden von Martin Luther King, die seine geliebte Großmutter ihm auf Schallplatte geschenkt hat. Und er ist voller Vorfreude, als ein Lehrer ihn darin bestärkt, ein Stipendium für eine Universität anzunehmen.


Doch das Leben hat anderes mit ihm vor. An dem Tag, an dem sich Elwood auf den Weg in die Stadt macht, stellt ihm das Schicksal ein Bein und statt an der Universität findet er sich in einer berüchtigten Besserungsanstalt wieder.


Diese Nickel Academy hat ein reales Vorbild. Die Florida School for Boys, auch bekannt unter dem Namen Dozier School for Boys, war eine staatliche Besserungsanstalt für schwer erziehbare Jugendliche. Sie bestand von 1900 bis 2011. Dann wurde sie geschlossen, weil man auf dem Gelände eine große Anzahl von nicht bezeichneten Gräbern gefunden hat, darin die Gebeine von toten Kindern und Jugendlichen. Whitehead stieß bei seinen Recherchen auf Berichte von Überlebenden, die sich erst dreißig Jahre, nachdem sie dort misshandelt worden sind, öffentlich geäußert haben. Es gibt dazu jede Menge Zeitungsberichte und forensische Untersuchungen.


Solche Besserungsanstalten waren in Wirklichkeit Jugendstrafanstalten, wobei das Wort STRAFE in Großbuchstaben geschrieben werden muss. Institutionalisierte Gewalt in einem Ausmaß, das der Verstand nicht fassen kann. Dort schien alles erlaubt, was der Mensch sich an Grausamkeiten auszudenken vermag: Züchtigungen, Auspeitschungen, seelische und körperliche Quälereien, Folter bis hin zum Tod. Und wenn es den Jungs mit der hellen Haut schon schlimm erging, so war es ungleich schlimmer für die schwarzen Jungs.


Elwood findet sich also unversehens inmitten einer von Menschen gemachten Hölle wieder. Mit großem Mut stellt er sich der Situation und erwartet nichts sehnlicher, als dass seine Zeit dort bald zu Ende sein möge, dass jemand das Unrecht erkennen würde, das ihm geschieht, dass man ihn dort rausholt oder dass er die ihm zugedachte Zeit einfach absitzt, bevor er sein normales Leben wieder aufnehmen kann. Es ist die Hoffnung, die ihn aufrecht hält.


Die Geschichte von Elwood ist ein Drama, unfassbar, dass solche Zustände noch gar nicht so lange her sind. Sie ist eigentlich unerträglich. Weil solche Geschichten so oder so ähnlich wirklich stattgefunden haben. Was könnte man nicht alles für Adjektive finden: schauerlich, brutal, sadistisch, unmenschlich, finster, am Ende sind sie alle unzureichend. 

Es braucht einen virtuosen Erzähler wie Whitehead, der sich des Themas annimmt. Der es mit Worten schafft, in dieser Finsternis ein Fünkchen Licht aufblitzen zu lassen, ganz klein und schüchtern. Denn so unglaublich es klingen mag, auch an solchen Orten gedeihen Sympathien und Freundschaften.


Dass er diese kleine Unze Menschlichkeit da findet, wo es keine Menschlichkeit zu geben scheint, ist der große Verdienst des Autors und es ist dieser Umstand, der diesen Roman zu etwas ganz Außergewöhnlichem und Großem macht.



Colson Whitehead: Die Nickel Boys

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

Hanser Verlag 2019, 224 Seiten

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